Die Tiere unserer Kirche bilden ein gewisses Korrektiv zur christlichen Tradition, die in ihrer auf den Menschen fixierten Weltsicht und in ihrem Misstrauen gegenüber allem «Animalischen» die Tierwelt allzu häufig ausser Acht gelassen oder sogar gering geachtet hat. Dabei sind die Tiere in der Bibel unübersehbar präsent. Die hebräische Bibel (= Altes Testament) bezeichnet die Tiere als «näfäsch chajjah», als lebendes Wesen, und verwendet dafür exakt dasselbe Wort mit dem auch die Menschen charakterisiert werden (vgl. 1. Mose 1,24; 2,19). Die Bibel geht davon aus, dass die Tiere ihren Schöpfer kennen. So kann Hiob zu einem seiner Freunde sagen: «Aber frage doch das Vieh, und es wird es dich lehren, oder die Vögel des Himmels, und sie werden es dir mitteilen (...) und die Fische des Meeres werden es dir erzählen! Wer wüsste nicht unter diesen allen, dass die Hand des HERRN dies gemacht hat? (Hiob 12,7–10) Ebenso selbstverständlich ist in der Bibel davon die Rede, dass auch die Tiere ihren Schöpfer preisen (vgl. Ps 148,10 und Jesaja 43,20). Klar ist überdies, dass es ein Reich Gottes ohne Tiere nicht geben wird. Im Gleichnis vom Senfkorn, einem Sinnbild für das Reich Gottes (vgl. Mk 4), sagt Jesus, dass unter dem Schatten der Senfstaude oder im Senfbaum die Vögel des Himmels nisten können.
Leider hat das Christentum hinsichtlich der Tiere das eigene biblische Fundament über Jahrhunderte vergessen. Unter dem Einfluss des römischen Rechts und der griechischen Philosophie wurden Tiere zur seelenlosen Sache.
René Descartes zum Beispiel, ein einflussreicher Denker im 16. Jahrhundert, vertrat die Auffassung, dass Tiere nichts anderes seien als Maschinen, gefühllos wie Metall, ohne Schmerzempfindung: «Brennt man ihre Haut mit glühend Eisen, dann winden sie sich zwar, schneidet man sie mit einem Skalpell in ihr Fleisch, dann schreien sie zwar, aber da ist kein wirkliches Empfinden.» Die Folgen solchen Denkens waren – und sind - verheerend. Auch in der Schweiz galten Tiere im Bereich des Rechts bis ins Jahr 2003 als Sache – wie ein Auto!
Es gab Gott sei Dank immer Männer und Frauen, die für die Tiere Partei ergriffen. Ein berühmtes Beispiel ist Franz von Assisi. Aber auch der Reformator Martin Luther äusserte sich – mit Berufung auf die Bibel – zum Tierwohl: «Die Tiere sind eine Kreatur Gottes, und was Gottes Kreatur ist, das darf man nicht schändlich missbrauchen (...). Aber manche Mitmenschen machen sich kein Gewissen daraus, ihr Vieh hungern zu lassen oder zu quälen oder zu martern, auch zu übermässiger Arbeit zu peitschen und zu zwingen. Das halte ich alles für Unbarmherzigkeit.» Obwohl hier erste Gedanken in Richtung Tierschutz auftauchen, entstand die moderne Tierschutzbewegung erst im 19. Jahrhundert. Sie hat ihre Wurzeln in pietistisch geprägten Kreisen in Württemberg. Der Pietismus war eine Reform- und Erneuerungsbewegung innerhalb des Protestantismus; er hielt nichts von äusserlichen Frömmigkeitsformen und verlangte sowohl eine Verinnerlichung des Glaubens als auch praktische Konsequenzen. – Gerne verstehe ich die Tiere unserer Kirche als eine Art «Denk-mal!», das uns an inhaltliche Kostbarkeiten sowie höchst moderne Wahrheiten unseres Glaubens erinnern.
Irina Bossart
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