Beginnen wir – in der Leserichtung – links aussen: Der Vers stammt aus dem ersten Johannesbrief; das Schriftband gibt allerdings nur den Anfang des Satzes wieder. In etwas altertümlichem Deutsch steht da:
«Sehet, welche Liebe hat uns der Vater erzeiget». In einer moderneren Übersetzung und vervollständigt lautet der Vers: «Seht, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes und wir sind es auch!» Im Vers wird eine grosse Zusage gemacht: Gottes Liebe ist bedingungslos und wir sind Gotteskinder. Die Erfahrung des Geliebt-Seins ist fundamental; ohne Zuwendung und Liebe kann sich menschliches Leben nur schlecht entfalten, wenn überhaupt. Aus solcher existenzieller Anerkennung schöpfen wir Lebenslust und Lebensmut. Im zweiten Teil des Satzes bezeichnet der Autor des Johannesbriefes die EmpfängerInnen als «Gotteskinder». Konkret bedeutet das: So wie Jesus Gottes Sohn ist, sind auch wir Töchter und Söhne Gottes! Gott ist unser gemeinsamer Ursprung; auch wir tragen Spuren von Gott in uns. Daran erinnert nicht zuletzt das «Unser Vater»-Gebet, das Jesus seinen JüngerInnen ans Herz legte. Da heisst es ja nicht: «Euer Vater» sondern eben‚ «Unser Vater». Weitergedacht bedeutet dies, dass wir untereinander geschwisterlich verbunden sind – als Gleichgestellte.
Betrachten wir den mittleren Vers: «Dein Wort ist unseres Fusses Leuchte.» Der Satz ist Teil von Psalm 119, dem längsten von allen 150 Psalmen. Wer alle 176 Verse liest, vernimmt ein grosses Loblied auf die gute (Weg)Weisung Gottes, auf die Torah. Gottes Worte sind für den Psalmbeter wie eine Lampe. Sie ermöglichen ihm, sich in der Welt und im Leben zu orientieren und einen Weg zu finden, der Wohlergehen und Frieden verheisst. Ohne Licht tappen wir im Dunkeln; ohne (innere) Ausrichtung drehen wir uns im Kreis – wir verirren uns, gehen verloren oder stossen zusammen.
Der Vers auf der rechten Seite lautet: «Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.» Dieses Bildwort bringt zum Ausdruck, dass Wachstum und Gedeihen ohne Nährstoff-Quelle und Verbundenheit nicht möglich sind. Der Begriff Religion leitet sich vom lateinische Wort «religio» ab und kann mit Rückbindung oder Anbindung übersetzt werden. Für ChristInnen ist der Ort der Anbindung Jesus Christus selbst. Wir können in unserem Glauben nur wachsen und reifen, wenn wir die Verbindung mit Christus nicht verlieren, wenn wir in ihn «eingewurzelt» bleiben.
Der vierte und letzte Bibelvers, in der Mitte angebracht, stammt aus dem ersten Petrusbrief: «Als lebendige Steine bauet euch zum geistlichen Haus durch Jesus Christus.» Der Auftrag, ein «lebendiger Stein» der christlichen Gemeinschaft zu sein, lässt sich nur realisieren auf der Grundlage der anderen drei Vers-Inhalte: Erst existenzielle Anerkennung, inhaltliche Ausrichtung und nährende Verbundenheit ermöglichen eine dynamische und lebendige Gemeinschaft, die zuversichtlich und engagiert den Weg in die offene Zukunft unter die Füsse nimmt. Ein solches «geistliches Haus» aus geschwisterlichen Menschen ist der Ort, wo das Gestalt gewinnt, was Jesus gewollt hat – Leben in Fülle und Heil-Sein für alle –, wozu er uns beauftragt hat – Frieden zu stiften –, worin er anwesend ist und wodurch er wirkt.
Von Irina Bossart